Barbi Marković: „Minihorror“

Minihorror

Mikis und Minis Minihorror als Prüfstand für literarische Toleranz. Experimentell, bis weit übers Ziel hinaus.

Ein Teil der ästhetischen Kommunikation besteht seit je aus Provokation. Alte Lesegewohnheiten werden herausgefordert, neue Worte erfunden, Tabus gebrochen, Leseerwartungen enttäuscht. Hier beginnt das Spiel mit Sprache und Form und gerät schnell zum Selbstzweck wie in der Experimentellen Literatur im Allgemeinen oder in der Absoluten Prosa im Besonderen. Barbi Marković, Siegerin des Preises der Leipziger Buchmesse 2024, legt mit „Minihorror“ einen eigenartigen, eigenwilligen, fast bis zur Unlesbarkeit gepeitschten Text vor:

Mini schminkt sich, weil sie bald zur Party gehen will. Sie schaut nach, wie spät es ist, und dabei bemerkt sie einen verpassten Anruf von Kylie. Als sie zurückruft, geht Kylie nicht ran. Ein paar Sekunden später schaut sie wieder aufs Handy und sieht, dass Kylie angerufen hat. Mini ruft wieder zurück, und Kylie hebt nicht ab, aber gleich danach ruft Kylie an, und Mini sieht es und hebt ab.
»Endlich«, sagt Mini und lacht. »Ich habe meinen Ton nie an.«
»Ich weiß«, sagt Kylie, »niemand hat den Ton an.«

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Julia Jost: „Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht“

Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht

Subversives Schreiben gegen das ländliche Kärntner Idyll. Eine poetische Aufruhr aus der Sicht seines kindlichen Wildfangs.

Wer, was ich erst durch den Kauf des Hardcover-Exemplars von Julia Josts Roman erfuhr, Geleitworte von Elfriede Jelinek auf dem Umschlagtext erhält und dieser sogar expliziert am Ende ihres Buches dankt, muss zumindest irgendetwas Textliches gewagt haben. Julia Jost wagt indes viel. Sie beschreibt aus der Sicht einer Heranwachsenden, das Alter der 1982 geborenen Ich-Erzählerin schwankt zwischen sieben und dreizehn Jahren, das Leben und Aufwachsen in Kärnten unter, so ließe sich mit Ingeborg Bachmann zusammenfassen, Mördern und Irren:

Obwohl der vulgo Focknhocker keine drei Kilometer vom Gratschbacher Hof entfernt wohnt, er dieselben Bäume anschaut wie ich und Schwalben, derselbe Geruch in ihn eindringt, er vom gleichen Speck isst und die gleiche Milch trinkt, obwohl er, wie ich, erst nach und nach den zweibeinigen Gang und die Artikulation mit der Zunge gelernt hat, obwohl sein Dialekt dem meinen gleicht, kam er mir in jenem Augenblick unüberbrückbar fremd vor.

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Gaea Schoeters: „Trophäe“

Trophäe

Auf der Jagd nach einer Logik des Tötens, die aber leer ausgeht. Ein literarischer Entfremdungsprozess.

Tabuthemen locken das Schreiben, wie das Licht die Motten anzieht. Sei’s die Pädophilie aus der Sicht eines Täters zu beschreiben wie in Vladimir Nabokovs „Lolita“. Sei’s den Holocaust aus Sicht der Täter zu beschreiben wie Jonathan Littell in „Die Wohlgesinnten“ oder das pure, wahllose Töten wie Bret Easton Ellis in „American Psycho“, um nur einige Beispiele zu nennen. Wie im letzteren Roman beschreibt nun Gaea Schoeters in „Trophäe“ einen von Gewalt und Sex besessenen Wallstreet-Mann namens John Hunter White, dessen Lebensinhalt sich um das Großwildjagen in Afrika und den Sex mit Frauen dreht:

Sein ganzer Körper sehnt den Moment herbei, in dem er genau wie Theodore Roosevelt vor über einem Jahrhundert Auge in Auge mit einem der gefährlichsten Tiere der Wildnis stehen wird, sich vollkommen darüber im Klaren, mit einer winzigen Bewegung seines Fingers das Leben des Kolosses beenden zu können, des letzten nahezu prähistorischen Wesens, und in dem Wissen, dass all diese Kraft folglich seinem Willen unterworfen ist. Denn nur er, Hunter, und niemand anderes, steht ganz oben in der Nahrungskette.

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Bodo Kirchhoff: „Seit er sein Leben mit einem Tier teilt“

Seit er sein Leben mit einem Tier teilt

Dem Tode nochmal von der Schippe gehüpft, oder wie jemand nach dem letzten Strohhalm greift und nicht daneben. Schaurig-kitschig verstörendes Lehrstück.

Selbstzerfleischende männliche Protagonisten kennt die Gegenwartsliteratur zuhauf: Michel Houellebeq in „Vernichten“; Heinz Strunk in „Ein Sommer in Niendorf“; Emmanuel Carrère in „Yoga“. Bodo Kirchhoffs „Seit er sein Leben mit einem Tier teilt“ schlägt in dieselbe Kerbe:

„[…] um sein Bereuen für neue Fragen zu nutzen, führt dazu, dass er Zeit braucht für eine Antwort, erst seinen Atem regulieren muss, um nicht zu schnaufen nach jedem Wort. Ich glaube, in meiner Nähe fühlt man die Möglichkeit des eigenen Scheiterns, sagt er nach einer Weile. Und zieht sich entweder bald zurück oder rennt dagegen an.“

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Gabriel García Márquez: „Wir sehen uns im August“

Wir sehen uns im August
Wir sehen uns im August.

Die Reichen und Schönen unter sich. Eine Telenovela in Kurzform.

Gabriel García Márquez skizziert in dem wenig umfänglichen Roman „Wir sehen uns im August“ die Suche Ana Magdalena Bachs nach Romantik, Intensität und Sinnlichkeitserfüllung. Die Protagonistin fährt einmal pro Jahr auf eine Insel in die Karibik, wo ihre Mutter begraben liegt. Dorthin bringt sie ein Strauß Gladiolen, gedenkt ihrer Mutter, verbringt eine Nacht in einem Hotel und fährt zurück in ihr vermeintlich glückliches Leben mit Ehemann, Tochter und Sohn. Doch dann geschieht etwas Unvorhergesehenes:

Es hatte zwei Uhr geschlagen, als ein Donner das Haus bis ins Fundament erschütterte und der Wind den Riegel des Fensters aufdrückte. Schnell schloss sie es wieder, und im plötzlichen Mittagslicht eines weiteren Blitzes sah sie die aufgewühlte Lagune und, durch den Regen hindurch, den riesigen Mond am Horizont und die blauen Reiher atemlos im Sturm flattern. Er schlief.

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Wolf Haas: „Eigentum“

Eigentum
Eigentum von Wolf Haas.

Mit viel Empathie, dennoch der Trauer und dem Schock mit Flapsigkeit ausgewichen. Freundlich, doch etwas feige und zu kurz.

Wolf Haas, bekannt vor allem für seine Brenner-Krimis, zuletzt „Müll“, befeuert in „Eigentum“ das aufblühende autofiktionale Genre. Im harten, schnellen Präsenz schreibt er nicht über, sondern gegen den Tod und das Sterben, hier, von dem Tod der Mutter seines Ich-Erzählers, die er im Altenheim besucht und zu diesem Anlass ihr Leben Revue passieren lässt:

Aber ich hab keine Zeit. Ich will das hinschreiben, solange sie noch lebt, danach möchte ich mich nicht mehr damit beschäftigen. Das heißt, ich hab keine Zeit, ich muss es schnell hinschreiben, womöglich lebt sie nur noch ein paar Tage (tatsächlich nur noch zwei), dann möchte ich diese verdammten Geschichten auch endlich begraben, was geht es mich an, dass ein Mensch, den ich nicht gekannt habe, sein kleines Lechn immer wieder gegen ein größeres Lechn getauscht hat.

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Rhea Krčmářová: “Monstrosa”

Rhea Krčmářová: “Monstrosa”

Selbstfindungsoper im Institut für Essstörungen. Eine Opernsängerin haut auf den Putz und wirbelt das Leben der Mitinsassen herum. Eine wortgewandte Rhapsodie.

Rhea Krčmářová schreibt Bücher über Voluminositäten. In „Monstrosa“ lautet die Rahmenhandlung: eine Opernsängerin namens Isabella wird von ihrer weltbekannten Gesangslehrerin vor die Wahl gestellt, sich wegen Essstörungen in Behandlung zu begeben oder ihren Status als Schülerin und somit alle Chancen zu verlieren, sich noch einen Namen als Opernsängerin zu machen. Isabella beißt in den sauren Apfel, vermietet ihr Zimmer unter und weist sich selbst in das Klinikum Gertraudshöhe im Wienerwald ein:

Ich muss meine Spiegelung nicht sehen, angedeutet im Glas der Trenntüren zwischen Krankenstation und Stiegenhaus; in den Überresten des zersplitterten Spiegels im Therapieraum oder im kleinen Rund dessen, was einmal mein Schminkspiegel war. Das Monster bin ich.

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Iris Wolff: „Lichtungen“

Lichtungen

Eine Retrospektive der Verluste. Ein Leben, das wartet, auf sich warten lässt und keine Erlösung findet. Zu einem passiven Protagonisten gesellt sich eine destruktive Erzählweise.

Iris Wolffs Roman „Lichtungen“ dreht sich alles um Heimat und Identität einer deutsch-rumänischen Familie in der Nähe Siebenbürgens. Die Hauptfigur, Lev oder Leonhard, wächst in einer Familie aus Halbgeschwistern auf. Lis, seine Mutter, heiratete Levs Vater, als dieser nach dem Tod seiner Frau drei Kinder, zwei Söhne, eine Tochter durchzubringen versucht. Doch zwischen den Familienmitgliedern herrscht keine Harmonie. Vor allem Lev fühlt sich als außenstehender:

Lev hatte keine Großmutter mütterlicherseits. Keinen Großvater väterlicherseits. Er hatte keinen Vater. Und wer ebenso fehlte, war Ferry. Er war in all den Jahren kaum zu Besuch gekommen.

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Tijan Sila: „Radio Sarajevo“

Radio Sarajevo

Unverbindliches aus dem Nähkästchen-Plaudern über Krieg, Flucht und Traumaverarbeitung. Mehr eine Skizze, ein Brainstorming, aber kein Werk gegen das Vergessen.

Gegen das Vergessen schreiben, so schließt Sila sein eigenes Buch, das von sich nicht behauptet ein Roman zu sein und auch, in der Tat, nicht im entferntesten einer ist:

„In Bosnien wird die Generation meiner Eltern die »entwurzelte« oder die »ausgerissene« genannt. Meine Generation aber hat keinen Spitznamen, wir sind die Vergessenen. Ich schrieb dieses Buch auch, um dem Vergessen etwas entgegenzusetzen.“

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Rebecca Yarros: „Flammengeküsst“

Flammengeküsst
Flammengeküsst von Rebecca Yarros.

Viel Schaumschlägerei um den ersten bedeutsamen Kuss und Sex. Eine Protagonistin findet sich und ihre Lust in einer leeren, faden Welt.

Ein Roman über die Suche und das Finden des richtigen Partners, über ein Schwanken zwischen dem Spatz in der Hand und der Taube auf dem Dach, über den Versuch, über sich und das Auferlegte hinaus- und wieder hineinzuwachsen – Sehnsuchts- und Traumprosa, die die Untiefen der eigenen Individualität aus dem Wege geht und in die geliebten und gehassten Mitmenschen projiziert:

Xaden, der grüblerisch und rechthaberisch, gefährlich und tödlich ist, ist ein hinreißender Anblick, der meinen Puls in die Höhe treibt. Aber Xaden, der lacht, mit zurückgelegtem Kopf und einem Lächeln auf den Lippen, ist einfach umwerfend schön. Mein törichtes, dummes Herz fühlt sich an, als wäre es von einer Faust umschlossen, die fest zudrückt.

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